Ein modernes Märchen
Im goldenen Käfig sitzen
Es war einmal eine Frau mittleren Alters. Ihr Name war Nina. Diese hatte sich selbst einen goldenen Käfig gebaut. Nicht, dass es diesen Käfig tatsächlich gegeben hätte. Nein, er existierte alleine in ihren Vorstellungen. Dieser Käfig war durchaus geräumig und er war von golden glänzenden Gitterstäben eingefasst. Er besaß ein großes offenes Dach und mehrere ausgehängte Türen. Ein Vogel hätte mit freudigem Flügelschlag entdeckt, dass er den Käfig jederzeit und auf vielen verschiedenen Wegen verlassen konnte. Eigentlich verdiente der goldene Käfig die Bezeichnung Käfig gar nicht, denn er konnte weder Tiere noch Menschen wirklich gefangen halten.
Und doch war es so, dass Nina in diesem goldenen Käfig saß und keinen Weg aus ihm heraus wusste. Sie bemerkte durchaus die offenen Türen und das weit zum Himmel geöffnete Dach. Denn sie konnte nachts den sternenübersäten Himmel leuchten sehen, ohne dass Gitterstäbe ihren Blick trübten. Sie konnte sich in Träumen an diese unbeschreibliche Dimension des Universums verlieren. Sie verdrückte sogar die eine oder andere Träne der Sehnsucht nach einem Leben ohne Gitter. Und doch kam Nina nicht einen Augenblick auf die Idee, sich aufzuschwingen, den Käfig zu verlassen und die nahe und ferne Umgebung bis hin zum leuchtenden Himmel zu erkunden.
Die Sehnsucht nach Freiheit siegt
Nina saß wie gelähmt in diesem Käfig und starrte gegen die Gitterstäbe. Sie nahm die Stäbe überdimensioniert wahr, sah aber nicht die vielen Möglichkeiten der Freiheit zwischen den Stäben. Warum nur war sie wie festgeklebt in dieser beklemmenden engen Umgebung? Sie wünschte sich doch nichts sehnlicher als frei zu sein, zu fliegen und alle Abenteuer dieses Lebens zu entdecken.
Immer öfter stellte sie sich die Frage, was sie davon abhielt, ihre Freiheit zu genießen und das Leben voller Freude anzugehen. Ihr Schmerz, nicht das zu machen, was ihre größte Sehnsucht war, wurde stärker und stärker. Eines Tages raffte sie all ihren Mut zusammen und fühlte tief in sich hinein. Sie wollte wissen, welche Gefühle sie derart bremsten, so dass sie sich nicht traute, den Käfig zu verlassen.
Die Angst ansehen um neue Schritte wagen zu können
Sie fühlte Angst hochkriechen. Eine unbeschreiblich tiefsitzende und lebensbedrohlich wirkende Angst. Mühsam versuchte Nina zu erkunden, welche Angst genau sie da in sich trug. Es war ohne Zweifel überaus mutig von ihr, diese Angst tatsächlich anzusehen. Sie litt Höllenqualen, aber sie ließ nicht nach. Mit der Zeit erspürte sie das Thema ihrer Angst. Ihre Angst war, dass das Leben eh schon gelaufen ist. Egal, was sie mache, könne sie sich nicht daran erfreuen. Deshalb machte es für sie keinen Sinn, das Leben zu wagen. Aha, sagte sie zu sich selbst. Das ist ja eine verrückte Angst. Aus Angst vor dem Leben traue ich mich nicht zu leben. Nina fasste einen mutigen und gewagten Entschluss: Sie nahm diese Angst an.
In der Annahme der Angst liegt die neue Freiheit
Zunächst fühlte sich diese Angst übermächtig an. Und irgendwie so, als würde gleich ihr ganzer Körper zerspringen. Nina hielt dieses Gefühl aus. Und tief in ihrem Inneren wusste sie, dass die Angst sie nicht umbringt. Nina schaffte es tatsächlich, der Angst ein Gesicht zu geben. Überrascht stellte sie fest, dass das Gesicht nicht grausam war.. Es war ein Luftballon, der ein Smiley-Gesicht trug. Ein Gedankenblitz schoss ihr durch den Kopf: Mit einem einzigen Nadelstich kann ich diesen Luftballon zum Zusammenfallen bringen Nina schaute direkt in die Augen des Smileys. Der Blick dieser Angst war hochnäsig und siegessicher. Nina hielt diesem Blick stand.
Mit der Angst reden
Sie begann sogar, mit der Angst zu reden. In diesem Gespräch merkte sie, dass der Luftballon keine Antworten auf ihre Fragen hatte. Er stellte sich im wahrsten Sinn des Wortes als heiße Luft dar. Warum er ihr die Lebenslust rauben wolle, beantwortete er beispielsweise mit einem hämischen Grinsen, so richtig von oben herab. Nach und nach merkte Nina, dass die Angst keine wirklichen Argumente hatte. Sie war einfach nur als Angst da. Und das in einer so leicht verletzbaren Maskerade. Sie verstand, dass sie sich vor dieser Angst nicht mehr fürchten musste. Nach und nach verkleinerte sich Ninas Angst, und je mehr sie die Angst annahm, desto mehr verflüchtigte sie sich. Am Schluss fiel der Luftballon wie von selbst in sich zusammen.
Als Nina nun in ihrem Käfig sitzend die Gitterstäbe betrachtete, stellte sie erstaunt fest, dass der Käfig offene Türen und ein geöffnetes Dach besaß. Sie stand auf und kletterte durch eine große Tür in die Freiheit. Nina kehrte nie wieder in ihren Käfig zurück.